Krefeld. Im Kinderheim Kastanienhof haben die jungen Bewohner viele Mitspracherechte. Seit zwei Jahren wird mit einem neuen pädagogischen Konzept gearbeitet. So wird auch der Wunsch vieler Kinder, in die Familie zurückkehren zu dürfen, ernst genommen. Und in einigen Fällen gibt es Hoffnung auf ein glückliches Ende.
Von Bärbel Kleinelsen (Text) und Thomas Lammertz (Fotos)
Es gibt einen Ort, der ist traumhaft schön. Kinder leben dort, die ihre Freiheit genießen und Kind sein dürfen. Ihr Anführer heißt Peter Pan. Er ist frech, naseweis und ein ausgemachter Rotzlöffel. Seit über 114 Jahren verzaubern die Geschichten aus dem Nimmerland Kinder und Erwachsene auf der ganzen Welt. Wie schön wäre eine Welt, in der Kinder nicht machtlos der Willkür der Erwachsenen ausgeliefert sind? In der sie mitreden dürfen, ernst genommen und gewertschätzt werden? In Krefeld gibt es ein solches Nimmerland. Es ist dort, wo man es vielleicht am wenigsten erwartet: in einem Kinderheim.
Sehnlich haben sich die Kinder von Gruppe vier Haustiere gewünscht.
Nun steht ein grosser Stall mit zwei Kaninchen im Wohnbereich.
Um die Pflege der Tiere kümmern sich die Kinder selbst – unter Anleitung der Erwachsenen, die Ihnen bei der Reinigung helfen.
Seit zwei Jahren arbeiten die Mitarbeiter des Kastanienhofes mit einem neuen pädagogischen Konzept. Es soll den Kindern, die in der schwersten Stunde ihres Lebens dorthin gekommen sind, helfen, sich in der Einrichtung an der Kaiserstraße wohl zu fühlen. „Wir nehmen die Kinder und ihre Wünsche ernst. So ernst, dass wir ein Kinderparlament eingerichtet haben, das ihre Interessen vertritt. An allen Entscheidungen, die den Alltag im Heim betreffen, werden die Kinder und Jugendlichen beteiligt“, sagt Jens Lüdert, Heimleiter des Kastanienhofs. In früheren Zeiten wäre Lüdert der Herr im Haus gewesen. Ein Patriarch, der einsam seine Entscheidungen fällt. „Eine schreckliche Vorstellung“, findet der 51-Jährige und ist froh, dass sich die Last der Verantwortung heute auf viele Schultern verteilt. Sowohl Mitarbeiter als auch Kinder haben Mitspracherechte und werden an Entscheidungsprozessen beteiligt.
Die Wünsche, Kritikpunkte und Sichtweisen der Kinder vertritt das Kinderparlament, das sich aus den Sprechern der Wohngruppen zusammensetzt und alle vier Wochen trifft. Die Ergebnisse dieser Treffen werden der Heimleitung präsentiert, die darauf reagieren muss. „Ich habe zehn Tage Zeit, dann muss ich spätestens eine Entscheidung mitteilen und begründen“, erklärt Lüdert.
Was sich einfach anhört, war überhaupt nicht einfach umzusetzen. Mitsprache muss man lernen. Nicht nur die Kinder, auch die Mitarbeiter brauchten Zeit, um sich an die neue Linie zu gewöhnen. „Aber wir haben es geschafft“, sagt Lüdert stolz, denn er weiß, dass es bislang nur wenige Einrichtungen gibt, die konsequent demokratisch organisiert sind. Die Botschaft an die Kinder: Es ist euer Zuhause, ihr seid uns wichtig, nichts wird über eure Köpfe hinweg entschieden.
„Verlorene Jungs“ heißen im Nimmerland die Mitstreiter von Peter Pan. „Verloren“ ist dabei durchaus positiv gemeint. Denn Verlorenes kann gefunden werden, nach Verlorenem wird gesucht, Verlorenes ist irgendjemandem wichtig. Und: Für Verlorenes gibt es Hoffnung. „Hoffnung gibt es für unsere Kinder auch. Viele Kinder wünschen sich, in ihre Familien zurückkehren zu dürfen. Wir nehmen diesen Wunsch sehr ernst und bemühen uns, mit den Eltern zusammen an einer Rückführung zu arbeiten“, erklärt der Heimleiter, der selbst 20 Jahre lang an der Basis gearbeitet hat und deswegen den Alltag in einer Gruppe kennt.
Seit einer Umfrage unter „seinen Kindern“ weiß er auch, wie wichtig der Aufnahmetag ist. Alle Gefragten konnten das genaue Datum und sogar die Uhrzeit nennen, alle erinnerten sich an das erste Essen. „Wie wichtig der erste Tag ist, war uns gar nicht so bewusst. Jetzt haben wir natürlich vieles geändert, damit die Kinder bei uns einen guten Start haben“, sagt Lüdert.
Kommt ein Neuling beispielsweise in Gruppe vier, wird er nach einem kurzen Hallo beim Heimleiter vom Gruppensprecher abgeholt und in sein neues Zuhause gebracht. In einem bunten Willkommens-Heft findet der Neue alle Informationen über den Kastanienhof. In der Gruppe selbst ist sein Bett schön bezogen, es gibt ein Willkommensgeschenk und bunte Bilder oder Briefe der anderen Kinder. „Wie ein Gast soll sich das Kind bei uns direkt wohl- und angenommen fühlen. Wichtig ist auch, dass es weiß, dass wir auf seiner Seite stehen und ihm dabei helfen, seine Wünsche umzusetzen.“
Wer in Lüdert einen naiven Peter Pan sieht, der seine Augen vor Tatsachen verschließt, der irrt. Der Heimleiter weiß aus jahrzehntelanger Erfahrung um die Probleme, mit denen Einrichtungen dieser Art zu kämpfen haben. Er weigert sich jedoch, solche Themen unter den Teppich zu kehren. „Wer sagt, Übergriffe in welcher Art auch immer gibt es bei uns nicht, der lügt. Natürlich haben wir damit Probleme. Das haben wir auch angesprochen und um Hilfe gebeten, zum Beispiel beim Thema Sexualität. Inzwischen werden alle Mitarbeiter regelmäßig geschult und es gibt einen Leitfaden, wie man mit schwierigen Situationen umgeht. Hilfreich sind auch Gespräche mit anderen Kollegen, die nicht direkt betroffen sind.“
Normalität wird in den Gruppen groß geschrieben. Normalität und feste Tagesstrukturen geben Sicherheit. Besucher von Gruppe vier fühlen sich bei so viel „Normalem“ direkt ans eigene Zuhause erinnert. Bunte Farben, Poster und Möbel, alterstypisches Spielzeug, Haustiere, Spielekonsolen und unzählige Fotos schmücken die Räume – ein schönes Zuhause ist es, in dem zehn Kinder zwischen sieben und 14 Jahren in Ein- und Zweibett-Zimmern leben. Ihre Eltern sehen die meisten regelmäßig, können Mama oder Papa immer anrufen, wenn sie das Bedürfnis dazu haben. Das unterscheidet die Kastanienhof-Kids von Peter Pans Rasselbande. Das Nimmerland an der Kaiserstraße ist eben keine Einbahnstraße. Wer hier wohnt, hat alle Chancen auf eine glückliche Zukunft – auch ohne Feenzauber und Peter Pan.
Spenden: Kinderheim Kastanienhof, IBAN: DE90320500000000311738 BIC: SPKRDE33XXX Sparkasse Krefeld